Berliner Zeitung 15.4.2004
Tobias Schormann: Herr Weißbarth, Sie beschäftigen sich seit Jahren mit Ihrem Kollegen Alfred Hitchcock. Auch ihr Oscar-nominierter Film "Echo" ist in Hitchcock-Manier gedreht. Was fasziniert sie so sehr an ihm?
Hitchcock war immer schon mein großes Vorbild. Seine Technik ist bis heute einzigartig geblieben.
Und was ist seine Technik?
Hitchcock gilt ja bekanntlich als der Meister des Suspense, zu Deutsch als Experte für spannungsgeladene Momente. Dabei arbeitet er mit einen einfachen, aber wirksamen Mittel: Der Zuschauer weiß mehr als die Figuren. In "Der Mann, der zu viel wusste" wartet der Gangster zum Beispiel auf einen Beckenschlag in einem Musikstück, der den tödlichen Schuss übertönen soll. Der Zuschauer weiß das und fiebert mit der Figur mit, während die Musik läuft. Er will ihr zurufen "Pass auf!", doch sie blickt ihn nur ahnungslos von der Leinwand an. Diese zähen Momente des lähmenden Entsetzens machen bei Hitchcock die Spannung aus.
Warum hält ein Regisseur einen Vortrag über einen anderen Regisseur?
Ich versuche seit Jahren, den Stil Hitchcocks zu analysieren. Den Leuten möchte ich nahe bringen, wie aktuell seine Arbeit heute noch ist. Mit Filmbeispielen zeige ich seine Entwicklung. Ich wünschte, heute würden mehr Regisseure arbeiten wie er.
Was ist bei heutigen Thrillern anders?
Sie sind oft überladen mit Effekten und legen den Fokus auf Action. Hitchcocks Filme leben von der Andeutung der Gefahr, sie regen die Fantasie an - heute setzen Filme dagegen auf einen Sinnesrausch. Hitchcock schafft es ohne große Gewaltszenen, die Zuschauer zu fesseln: So können Schritte auf dem Flur viel spannender sein als eine Explosion, die das ganze Haus in Schutt und Asche legt. Hitchcock pflegte zu sagen: Man darf den Zuschauer nicht unterschätzen.
Also hat er weniger technische Hilfsmittel eingesetzt?
Das nicht - Hitchcock war durchaus ein Technik-Tüftler. Besonders für die Geräusche in seinen Filmen hat er sich unglaubliche Dinge ausgedacht. So schlitzte er wochenlang Melonen auf, um herauszufinden, mit welcher Sorte man am ehesten das Geräusch imitieren kann, das entsteht, wenn ein Mensch mit einem Messer erstochen wird. Legendär ist auch die Klangkulisse in "Die Vögel". Hierfür kam das Trautonium zum Einsatz, ein vom deutschen Komponisten Oskar Sala speziell entworfenes Instrument, das besonders bedrohliche Vogelschreie ausstieß.
Welchen Einfluss hatten die Schauspieler bei Hitchcock?
So gut wie gar keinen. Hitchcock hat seine Filme zu Beginn Bild für Bild vorgezeichnet, er hatte sie komplett im Kopf, bevor er anfing zu drehen. Für berühmte Schauspieler wie Doris Day muss das ein Graus gewesen sein. Hitchcock soll zeitweise am Set eingeschlafen sein - für ihn war der Film ja schon fertig, als die Dreharbeiten begannen.
Muss man Hitchcock-Kenner sein, um vom heutigen Abend etwas zu haben?
Ich gebe zwar Tipps für Filmemacher, aber wer die Filme als Zuschauer genießen will, ist auch richtig.